Schuld an der gesetzlich legitimierten Misere von Trans*-Menschen hat das Sittengesetz. Das… was? Na, das Sittengesetz. Siehe Grundgesetz. Da taucht es plötzlich auf. In Artikel 2 (1), um genau zu sein: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
Im Jahr 1957 wurde mit dem Sittengesetz der Fortbestand des Schwule kriminalisierenden §175 legitimiert, und mit dem Sittengesetz würden manche Politiker_innen auch heute wedeln, müssten sie ein Argument finden, wieso ein Trans*-Mensch „dauernd fortpflanzungsunfähig“ sein muss, ehe der Staat seine Geschlechtsangleichung anerkennt. So sieht das Referentin Julia Ehrt, Vorstand im Berliner Projekt TrIQ (TransInterQueer e.V.) im Gender-Happening-Panel „Queere Lebensweisen – im Transsexuellengesetz (TSG)“. Hauptsache, so mancherorts die Devise, keine Bilder von schwangeren Männern ins Weltbild integrieren zu müssen - auch wenn es völlig unverhältnismäßig sei, jährlich „Tausende in die Sterilisation zu zwingen“, um einzelne Schwangerschaften von Transmännern oder Zeugungen durch Transfrauen zu verhindern.
Überhaupt, die Auflagen, mit denen sich Trans*-Menschen seit den Anfängen des TSG 1981 konfrontiert sehen: Allein zur Vornamensänderung werden zwei psychiatrische Gutachten, eine richterliche Entscheidung, mehrmonatige Wartezeit verlangt. „Wieso dieser Aufwand?“, fragt Christian Schenk, ehemals Mitglied des Deutschen Bundestags und versierter Fachmann für Trans*-Rechte. „Als würden Trans*-Menschen besonderen Schutzes vor sich selber bedürfen.“ Für den fühle sich der Staat schließlich auch nicht bei anderen Personengruppen zuständig. „Trans* kann nicht diagnostiziert werden, jedes Gutachten ist nichts als Kaffeesatzleserei“, so klingt das bei ihm, wenn medizinische Pathologisierung außer Gefecht gesetzt wird.
Trans*-Menschen vorbehaltlos selbstbestimmt, ihre Grundrechte gewährt – auf europäischer Ebene ist dies das erklärte Ziel von Thomas Hammarberg, Menschenrechtskommissar des Europarats, der dem Deutschen Bundestag in seiner Entschlossenheit, Trans*-Menschen ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit zugewähren, weit voraus ist. Und auch das Bundesverfassungsgericht wird nicht müde, den Reformbedarf des TSG zu fordern.
Schenks Vorschlag: man möge es gleich ganz abzuschaffen und stattdessen eine einfache Regelung zur Vornamensänderung einrichten.
Julia Ehrt geht davon aus, dass Trans* im Lauf der nächsten Jahre vom ICD, der internationalen Klassifikation der Krankheiten verschwindet – und appelliert an die Politik, diesen Aspekt in der politischen Arbeit zu berücksichtigen. Frankreich macht es vor und will Trans* nicht mehr als „psychische Störung“ diffamieren -und trotzdem eine Lücke schaffen, um Trans*-Menschen ihre mitunter lebensnotwendigen geschlechtsangleichenden Operationen finanziell zu ermöglichen.
Für Thomas Birk, lesben- und schwulenpolitischer Sprecher der bündnisgrünen Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, ist es an der Zeit, dass sich Schwule und Lesben solidarisieren: „Jahrelang liefen Trans*-Menschen am Ende von Demos für Homo-Rechte mit, jetzt ist es Zeit für Solidarität mit ihren Belangen.“
Moderator Günter Dworek, Mitglied im Bundesvorstand des LSVD (Lesben- und Schwulenverband Deutschland) gehört wie Birk zu den Vorkämpfern für eine Ergänzung des Grundgesetz-Artikels 3 um „sexuelle Identität“, aufgrund derer niemand mehr zu benachteiligen sei – eben so, wie es die europäische Grundrechte-Charta und diverse Landesverfassungen bereits vormachen.
Weg vom Fraktionszwang, hin zur Öffnung des politischen Dialogs über die Optimierung des TSG über Parteigrenzen hinweg: dafür plädiert Adrian de Silva, Doktorand zu Trans*-Recht an der HU Berlin, der das TSG kritisch dem englischen „Gender Recognition Act“ gegenüber stellte – und weg von stillen Übereinkommen hin zur gesamtgesellschaftlichen Aufklärung über Trans*.
Und so werden vielleicht schon in naher Zukunft selbst konservative Abgeordnete ein Einsehen darin haben, dass anstelle eines kryptisch-modrigen „Sittengesetzes“ die Lebensrealität von Trans*-Menschen den Vorrang haben sollte – und das TSG deren Bedürfnissen entsprechen muss.
Der Autor Leo Y. Wild (*1975) ist freier Journalist (FAZ, Spiegel Online u.a.), Dokumentarfilmer und Filmkurator.
Dienstag, 7. Juli 2009
Greift Trans* dem Sittengesetz in den Schritt? Aber nein.
Geschrieben von Leo Y. Wild
in Gender Happening, Panel
um
12:43
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